Venedig: Die unsichtbare Stadt.
Versuch einer visuellen Dekomposition
Text und Fotografien: Christoph Montebelli
- Sire, ormai ti ho parlato di tutte le città che conosco.
- Ne resta una di cui non mi parli mai.
Marco Polo chinò il capo.
- Venezia, disse il Khan. Marco sorrise.
E di che altro credevi che ti parlassi?
L’imperatore non batté ciglio.
Eppure non ti ho mai sentito fare il suo nome.
E Polo:
Ogni volta che descrivo una città dico qualcosa di Venezia.
Quando ti chiedo d’altre città, voglio sentire dirti di quelle. E di Venezia, quando ti chiedo di Venezia.
Per distinguere la qualità delle altre, devo partire da una prima città che resta implicita per me è Venezia.
Italo Calvino, Le città invisibili
“Sire, nunmehr habe ich Dir von allen Städten erzählt, die ich kenne.”
“Es gibt immer noch eine, von der Du nie sprichst.”
Marco Polo senkte den Kopf.
„Venedig”, sagte der Khan. Marco lächelte.
“Was glaubst Du, worüber ich sonst mit Dir gesprochen habe?”
Der Kaiser zuckte mit keiner Wimper. "Und doch habe ich diesen Namen noch nie von Dir gehört."
Und Polo: "Jedes Mal, wenn ich eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig."
“Wenn ich Dich nach anderen Städten frage, möchte ich von diesen hören. Und von Venedig, wenn ich Dich nach Venedig frage.”
“Um die Qualität der anderen zu unterscheiden, muss ich von einer ersten Stadt ausgehen, die für mich implizit bleibt: Venedig.”
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
Diese in allen Sprachen der Welt vielzitierte Passage stammt aus Italo Calvinos 1972 veröffentlichten Le città invisibili (Die unsichtbaren Städte), einer modernen ré-écriture von Marco Polos asiatischem Reisebericht Il Milione aus dem 13. Jahrhundert. In einer Art Kamingespräch berichtet dort der venezianische Kaufmannsspross und Fernreisende Polo seinem Gastgeber Kublai Khan auf poetische Weise von den Städten des enormen Reichs, über dem der Khan waltet. Der Großkhan, ein Enkel des Dschingis Khan, war ein mächtiger Mann, er herrschte nicht nur über die Mongolen, sondern war als Begründer der Yuan-Dynastie gleichzeitig auch Kaiser von China. Polo verbrachte mehrere Jahre am Hof des Khan, der Gefallen an dem intelligenten jungen Mann aus Europa gefunden hatte und ihn auf diplomatische Missionen und Inspektionstouren durch sein immenses Reich schickte.
Die von Calvinos Marco Polo besuchten fünfundfünfzig Städte sind allesamt erfunden, wie auch ihre Topo- und Demographie, ihre Geschichte, und sämtliche sozialen und ökonomischen Umstände. Auch tragen sie fiktive Namen – und zwar allesamt die Namen von Frauen: da sind einerseits die von Kanälen durchzogenen Wasserstädte Anastasia und Smeralda, dann der Handelsknotenpunkt Eufemia, an dem sich Kaufleute aus sieben Nationen bei jeder Tag-und-Nacht-Gleiche und jeder Sonnenwende einfinden, aber auch Leonia, die aufgrund ihrer fabelhaften Produktivität im selbsterzeugten Müll zu ersticken droht.
Freilich sind diese Städte nicht unsichtbar, wie es der Titel von Calvinos Buchs suggeriert, es geht vielmehr darum, dass sie erst durch die Reflexionen und Reminiszenzen des Betrachters Marco Polo sichtbar werden, wobei ihm als Referenzrahmen seine nie explizit erwähnte Heimatstadt dient: Venedig ist die Linse, durch die er all diese fremden Städte betrachtet, Venedig ist der Archetyp, mit dem alle anderen Städte verglichen werden. Venedig wird, in den Worten des Romanisten Gerhard Goebel-Schilling, zur „paradigmatischen Urform”.
Dass ausgerechnet Venedig zum urbanen Bezugspunkt, zur Modell- und Urstadt wird, liegt bei Marco Polo auf der Hand: in dieser Stadt war er geboren und aufgewachsen, dort hatte seine Tausende von Meilen und über zwei Jahrzehnte dauernde Asienreise ihren Ausgang gefunden. Doch auch ansonsten bietet sich Venedig aufgrund seiner mehr oder weniger vollkommenen Pluridimensionalität (terrestrisch, aquatisch und aerisch), wie auch seiner topographisch, geschichtlich und politisch bedingten In-sich- und Ab-Geschlossenheit für derartige urbanistische Vergleiche an. Venedig, die ville accomplie, wie es Le Corbusier in einem Brief an den venezianischen Bürgermeister Giovanni Favaretto Fisca 1962 schrieb (mit der inständigen Bitte, die Stadt nicht zu „töten“).[1]
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Das vorliegende fotografische Projekt ist der Versuch einer visuellen Abstraktion dieser venezianischen Urstadt. Es ist der Versuch, das Grundgerüst der Stadt freizulegen und sie in ihre visuellen Elemente, geometrischen und strukturellen Details – Quadrate, Rechtecke, Würfel, Linien, Bögen und im Mauerwerk oder Wasser reflektierte Trapeze – zu dekomponieren, um diese dann in größeren, dem Kontext der Stadt intuitiv zuordenbaren Ensembles wieder zusammenzusetzten. Damit diese De- und Rekomposition gelingt, mussten nicht essenzielle Elemente, sofern möglich, aus dem Blickfeld verbannt werden. Hierzu gehören nicht nur visuelle Belästigungen wie das der touristischen Monokultur[2] geschuldete Dekor, sondern auch der Mensch an sich – also jene Spezies, die das Phänomen „Stadt“ erst notwendig gemacht und erschaffen hat: auch sie verschwinden hinter den Kulissen des von ihr errichteten Konstrukts.
Die Aufnahmen sind nicht dazu gedacht, zur visuellen Inventarisierung der Stadt Venedig beizutragen, hierzu gibt es unzählige andere fotografische Unternehmungen. Das Projekt hat auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität.[3] Es geht vielmehr darum, dem Betrachtenden die Möglichkeit zu bieten, sich aus diesen schwarzweißen Elemente-Ensembles selbst die (oder: eine) Stadt nach seinen eigenen Vorstellungen zu komponieren und zu bevölkern; die Aufnahmen sollen ihm helfen, die unsichtbare Stadt sichtbar zu machen, so, wie Erinnerungen und Reminiszenzen Marco Polo geholfen hatten, die von ihm besuchten Städte zu begreifen und zu umreißen.
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Macht es Sinn, sich heute noch visuell mit Venedig zu beschäftigen, dieser in allen erdenklichen Formen „überdokumentierten“ Stadt? Und wenn man seinen Blick nicht zurück-, sondern nach vorne richten möchte: was können wir überhaupt noch von der Serenissima lernen, jenseits der Lehren, die wir aus ihrem politisch-ökonomischen Niedergang ziehen können - der ebenfalls ans Wasser gebaute Stadtstaat Singapur übertrifft die heutige venezianische Wirtschaftsleistung um mehr als das Fünfzigfache -, sowie aus den Bedrohungen dieses vom Menschen erbauten urbanen Wunders durch die ebenfalls von Menschenhand geschaffenen Phänomene Klimawandel und Konsumismus?
Zur ersten Frage: wie oben erwähnt, geht es bei diesem Projekt weder um eine Inventarisierung noch um eine Dokumentierung. Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine „Überdokumentierung“ geben kann, denn wenn Bilder, wie der Philosoph Vilém Flusser geschrieben hat, nicht „denotative“ (eindeutige), sondern „konnotative“ (mehrdeutige) Symbolkomplexe sind, und konsequenterweise Raum für Interpretation lassen,[4] so folgt daraus, dass es theoretisch so viele verschiedene Betrachtungen geben kann, wie es Betrachtende gibt. Wenn man also in Bezug auf Venedig von einer Überdokumentierung spricht, somit ist wohl gemeint, dass es zuviele Bilder jener Art gibt, welche nur wenig bis keinen Raum für Interpretation lassen. Im vorliegenden Projekt wurde versucht, aufdringlichen und anmaßende Bilder zu vermeiden, um den Prozess der individuellen Imagination nicht zu unterlaufen.
Zum zweiten Punkt: welche message, die nichts mit einer der oben erwähnten venezianischen Katastrophen (Verfall, Klima, Konsum) zu tun hat, welchen positiven Anstoß, kann uns Venedig heute noch für die Zukunft „mitgeben“? Calvino selbst hatte sich vor einem knappen halben Jahrhundert bereits mit dieser Frage in seinem Essay Venezia: archetipo e utopia della città acquatica (Venedig: Archetyp und Utopie der aquatischen Stadt) auseinandergesetzt. In einer Zeit, in der er die Metropolen in der Krise sah und die modernen Städte im Verkehrschaos zu ersticken drohten, bot sich laut Calvino ausgerechnet Venedig, diese „antieuklidische“,[5] „pluridimensionale“ Stadt mit seiner strikten Trennung der Wegenetze für Fußgänger und für Transportmittel als Lösung für die Städte der Welt an (der Autor sprach von der „soluzione-Venezia“, und erwähnte, wie dieses „venezianische Modell“ auch schon als eine Möglichkeit für London studiert wurde). Doch Calvino ging noch einen Schritt weiter und sagte eine Zukunft voraus, in der Automobile und Flieger durch Luftkissenfahrzeuge ersetzt würden. Und gerade Venedig, das nicht diese „kurze Phase der Menschheitsgeschichte“ mitmachte, in der man glaubte, „die Zukunft gehöre dem Automobil“, würde jene Stadt sein, welche dank ihrer von diesen neuartigen Fortbewegungsmitteln privilegierten Wasserwege die Mobilitätskrise am besten bewältigen würde. Andere Städte würden nach dem venezianischen Modell umgebaut werden müssen. Der einzige Wermutstropfen für Calvino: dass Venedig nicht mehr die einzige Stadt ihrer Art sein werde, denn die Welt werde sich mit unzähligen „Venezie“, ja gar „Supervenezie“ füllen, alle mit übereinandergelegten Wegenetzen, wie die Urstadt an der Adria.
Calvinos futuristisch-optimistischen Überlegungen aus dem oben zitierten Essay muten freilich etwas naiv und trotzig an. Die unsichtbaren Städte hingegen lässt er mit einer deutlich nachdenklicheren Note enden: der Khan fragt Marco Polo nach der Zukunft und wundert sich, voll Ernüchterung, ob nicht alles vergeblich sei, wenn der letzte Anlegeplatz nur die Höllenstadt sein könne, und uns die Strömung in eine immer engeren Spirale dort hinunterziehe. Daraufhin sagt sein venezianischer Gast, dass die Hölle doch schon lägst da sei, sie sei jene, „in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden.“ Und angesichts dieser beklemmenden Situation gebe es nur zwei Möglichkeiten: man macht es sich einfach, akzeptiert die Hölle und wird Teil von ihr, bis man sie nicht mehr sieht. Oder man geht den riskanteren und anstrengenderen Weg und sucht, wer oder was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, um ihm dann Dauer und Raum zu geben.
Calvino schien sich genau für Letzteres entschieden zu haben: in der Hölle des von übervölkerten, unkontrolliert wachsenden Megastädten geprägten Zeitalters nach dem zu suchen, was nicht Hölle ist. Er habe Le città invisibili deshalb geschrieben, hatte er einstmals Frank MacShane von der New York Times in einem Interview gestanden,[6] „um die geheimen Gründe herauszufinden, warum Menschen in Städten leben. Aber am Ende habe ich so etwas wie ein Liebesgedicht für eine Stadt in einer Zeit geschrieben, in der es immens schwierig ist, dort zu leben.“
Le città invisibili ist also nichts anderes als eine Liebeserklärung an die Stadt, diese „höchsten Kulturprodukt der Zivilisation“ (Salvatore Settis) – und implizit auch an die Urstadt: an Venedig. Darum geht es, wenn man sich heute noch mit Venedig beschäftigt.
Diese Gedanken gelten auch für das vorliegende visuelle Projekt.
[1] Im gleichen Brief empfahl Le Corbusier, bei neuen Konstruktionen so modern wie möglich zu bauen und Stahlbeton zu verwenden, nicht etwa die „handgemachten Ziegel des alten Venedig“.
[2] Wie vom Archäologen und Kunsthistoriker Salvatore Settis in Se Venezia muore (Wenn Venedig stirbt) beschrieben, ist dies die “Seuche”, die erheblich zum Bevölkerungsschwund der letzten Jahrzehnte beigetragen hat (mit einer dramatischen Halbierung der Einwohnerzahl von 108.000 im Jahr 1971 auf 56.000 im Jahr 2015), so wie die Pest von 1630 schon einmal die venezianische Bevölkerung dezimiert hatte.
[3] Da der Mensch als unverbesserlicher Sammler sich einer zumindest rudimentären Inventarisierung kaum entziehen kann, sind den Bildern die Aufnahmestandorte zugeordnet.
[4] Für eine Philosophie der Fotografie
[5] Calvinos Essay beginnt in makelloser Poesie: „Die kürzeste Linie, die zwei Punkte verbindet, ist nie die gerade Linie, außer in den abstrakten Konstruktionen des Euklid. Venedig, erste antieuklidische Stadt, ist deshalb das Stadtmodell, das die meiste Zukunft hat.“
[6] The Fantasy World of Italo Calvino, erschienen am 10. Juli 1983